Die Geschichte mit dem Esel

Ich traue meinen Augen nicht! Da grast doch tatsächlich, mitten in unserer kleinen Schafherde, ein Esel. Fürwahr, ein ausgewachsenes Grautier mit wunderschöner Fellzeichnung. Ach du meine Güte, bekomme ich es jetzt auch noch mit echten Eseln zu tun? Dieser hier scheint zutraulich zu sein. Langsam trottet er näher. Seiner optischen Prüfung halte ich Stand. Neugierig beginnt er mich zu beschnuppern. Es ist ein Hengst, wohl proportioniert und gut gewachsen. Seine Hufe lassen einwandfreie Pflege vermuten. Der kommt aus gutem Stall, denke ich mir.

Patrik, der Schäfer, lässt mich wissen, dass das Langohr während mehrerer Tage auf unserem Weingut herumlungerte. Schliesslich hat er es eingefangen und zu unseren Schafen auf die Weide gebracht. An streunende oder gar wilde Katzen und Hunde sind wir uns gewohnt. Ein umherstrolchender Esel hingegen, das gab's noch nie. Nachbarn und Polizei sind über den zugelaufenen Vagabund unterrichtet und eingeladen, das Tier möglichst umgehend abzuholen. Doch nichts regt sich. Der Esel ist ohne Besitzer und heimatlos. Sollen wir ihn behalten oder dem Metzger übergeben?

Mir fällt auf, dass unser Gast weder starrköpfig noch bockig ist. Was reden wir denn immer von störrischen Eseln? Und da gibt’s doch die Geschichte vom dummen Esel, der zwischen zwei wunderbar duftenden Heuhaufen kläglich verhungert, weil er sich nicht zu entscheiden weiss, von welchem er zuerst fressen will. Dieser hier frisst stetig und genüsslich vor sich hin. Von Entscheidungsnotstand und Unentschlossenheit keine Spur.

Zugegeben, seine Lautgebung hat mit wohlklingendem Gesang nichts zu tun. Das bemitleidenswerte Acapella-Geschrei gleicht der Tonfarbe einer ungeölten Bandsäge. Jedes Geschöpf hat auch seine schwachen Seiten. Schwache Seiten? War es nicht das hoffnungslose, furchterregende Geschrei des Esels, welches den Bremer Stadtmusikanten* zum Triumph über die Räuberbande verholten hat? Das vor mir stehende Langohr und seine Artgenossen werden definitiv zu Unrecht als wildschreiende, störrisch dumme und unentschlossene Grautiere bezeichnet. Diesem Umstand will ich Rechnung tragen. Wir werden den Esel behalten!

Hinweis: Diese Geschichte hat sich im Herbst 2014 zugetragen. Mittlerweile hört unser Esel auf den Namen Stäne. Um sein jugendliches Temperament zu dämpfen wurde er kastriert. Stäne beweist seine Nützlichkeit als lautstarker Wächter unserer Schafherde. Mittlerweile würde wohl auch ich sein pünktliches, allmorgendlich stattfindendes Geschrei vermissen :-) !

*Die Bremer Stadtmusikanten. Märchen der Gebrüder Grimm mit folgendem Inhalt. Von ihrer Herrschaft ausgemusterte, zur Schlachtung bestimmte Tiere (Hahn, Katze, Hund, Esel) nehmen Reissaus. Im Walde gelingt es ihnen durch wildes Gezeter und Geschrei eine Räuberbande für immer aus deren Behausung zu vertreiben. Dadurch finden sie ihr neues Zuhause.

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