Die Geschichte des richtigen Zeitpunktes

«Wie wisst ihr, wann ihr mit der Ernte beginnen könnt»? Diese Frage höre ich oft bei meinen Kellerrundgängen. Der Zeitpunkt der Ernte ist die wegweisende Entscheidung bei der Weinbereitung. Dahinter steckt eine komplexe, äusserst spannende Geschichte. Der Zuckergehalt allein reicht nicht. Die sog. Zuckerreife ist nicht gleich der aromatischen Reife. Fehlt diese, ist die Beere zwar süss, aber geschmacklos und uninteressant. Währenddem die Zuckerreife viel Sonnenschein benötigt, wünscht sich die Aromatik das Wechselspiel von warmen Tagen, kühlen Nächten und wohldosierten Niederschlägen. Die Traubensorte spielt eine wichtige Rolle. Frühreife Sorten wie Grenache noir, Syrah oder Chardonnay machen bei uns in der Regel den Auftakt. Der Schlusspunkt setzt die späte Sorte Cabernet Sauvignon. Die Charakteristik des angestrebten Weines berücksichtigen wir ebenfalls. Eine überreife Beere bringt eine andere Aromatik als eine knapp ausgereifte Traube.
Somit bestimmt eine Vielzahl von Faktoren den Erntebeginn. Während den Wochen vor der Ernte sind aufmerksame Beobachtungstouren durch den Rebberg angesagt. Und auf eine solche Tour nehme ich Sie jetzt mit.
Beginnen wir mit den augenfälligen Kriterien: Dem Gesundheitszustand, der Grösse und Farbe. Die Trauben wachsen von harten, jungen «Perlen» zu «grossen»1), saftigen Beeren. Die Farbe wechselt von grün zu gelb resp. rötlich. Auch die Traubenstiele ändern ihre Farbe und die reifen Beeren lassen sich leicht vom Stil zupfen.

1) Die Grösse der Beeren ist abhängig von der Traubensorte.

Gezupft wird bei uns fleissig, brauchen wir doch viele Beeren für die Reifekontrolle. Dabei begleitet uns ein umfangreicher Fragenkatalog: Löst sich die Schale leicht vom Fruchtfleisch? Sind die Beeren weich? Halten sich Süsse und Säure die Balance? Schmecken die Beeren sortentypisch-aromatisch? Lassen sich die Traubenkerne leicht aus dem Fruchtfleisch lösen? Sind die Kerne braun und knackig mit einer dezenten Röstnote oder noch grün und bitter? Und zu guter Letzte: Wie schmeckt der Traubensaft?
Haben die Beeren die optische und sensorische Prüfung hinter sich, wandern sie in die Analytik. Hier werden u. a. Zucker- und Säuregehalt bestimmt. Eine ausgewogene Säure ist wichtig für die Frische und Lebendigkeit des Weines, der Zucker hingegen ist «verantwortlich» für den Alkoholgehalt.

Jetzt fehlt noch der unberechenbare, schicksalshafte Faktor: Das Wetter! Regen während der Ernte mögen wir nicht. Die Beeren «pumpen» Wasser, schwellen an und können platzen. Bei geplatzten Beeren herrscht akute Fäulnisgefahr. Die Aromatik wird verwässert. Die Wettervorhersage ist während der Ernte unsere ständige Begleiterin und massgeblich am Ernteprogramm beteiligt. Genaue, verlässliche Prognosen erlauben eine vorausschauende Planung und lassen uns ruhiger schlafen. Unbeständiges Wetter kann dazu führen, dass das gesamte Ernteprogramm durcheinandergewirbelt wird und die reifen Trauben einer Parzelle früher als ursprünglich geplant in den Keller wandern.
Immer wieder mischen auch die Wildschweine bei der Ernteplanung mit. Sie warten ebenfalls auf den richtigen Zeitpunkt. Die reifen Trauben entdecken sie schnell und bei Wassermangel dienen sie ihnen als Flüssigkeitsersatz. Da heisst es schnell handeln und ernten bevor sich die Wildschweine im Rebberg bedienen.
All diese Elemente werden von uns aufmerksam beobachtet, analysiert und interpretiert. Sie führen am Schluss zur Bestimmung des richtigen Erntezeitpunktes. Die langjährige Erfahrung lässt uns mittlerweile die Entscheide mit Ruhe und Sicherheit treffen. Die Anspannung bleibt jedoch bis zum Schluss. Erst wenn die letzten Trauben im Keller sind, atmen wir auf und beschliessen die Ernte jeweils mit einem herzhaften schwyzerischen «Juchzer»…

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